Die Köstliche Perle in neuem Blickwinkel

Dr. Hugh Nibley
Der Stern April 1970

Teil 1: Können wir vielleicht Ihren Ausweis sehen?

An diesem Punkt der Reise angelangt, könnte ein Wanderer mit schmerzenden Füßen fragen, warum der Führer, dieser Amateur, die Gesellschaft nicht endlich aus der Fiebersumpfregion heraus und in die gute Luft der Bergeshöhen bringe. Der Grund dafür ist, daß die Diskussion um das Buch Abraham noch nie aus dem Morast herausgekommen ist, und wir müssen uns mit diesem bedrückenden Terrain vertraut machen, weil wir und alle anderen Kritiker dieses Buches noch immer darin stecken. Die Situation ist heute um kein bißchen anders als 1912; auch daß ein paar der Originalpapyri, darunter diejenigen, die der Prophet für den Text des Buches Abraham und für die Faksimiles mit ihren Anmerkungen benutzt hat, wieder zum Vorschein gekommen sind, hat keine einzige neue Frage aufgeworfen, obwohl dieser Umstand, wie wir noch sehen werden, einige alte Fragen gelöst hat[1].

Wenn das Wissen der Ägyptologen heute größer ist als 1912, so besitzen sie dafür weniger Autorität; denn es ist zweifelhaft, ob irgendein lebender Gelehrter jemals darauf hoffen oder damit rechnen darf, das außerordentliche Prestige eines Petrie, Meyer, Breasted, von Bissing oder Sayce zu erreichen. Aber genauso wie früher hält man viel auf Autorität, und darum ist es höchste Zeit, daß endlich jemand die Frage stellt, die nie zuvor aufgeworfen worden ist, nämlich: Auf was für Qualifikationen konnte sich das illustre Schiedsgericht des Dr. Spalding stützen — jeder einzelne und alle gemeinsam —, wodurch sie befähigt gewesen wären, ein Urteil über das Buch Abraham zu fällen? Das ist ja, wenn man sich recht besinnt, die Kernfrage der ganzen Angelegenheit, und dies wird die Kernfrage bleiben, solange man voraussetzen darf, daß derjenige, der am meisten über den Gegenstand weiß, auch für alles eine Antwort haben muß. Bischof Spalding hat sich gerühmt, er habe „eine umfassende Umfrage unter den Gelehrten in aller Welt” vorgenommen; er habe „die führenden Gelehrten aus allen Teilen der zivilisierten Welt” zur Mitarbeit gewonnen; sein Werk sei demnach „eine Anthologie von Meinungen der maßgebenden Gelehrten . . . Beurteilung durch die bedeutendsten Ägyptologen der Welt [2]”. Weder die Mormonen noch sonst jemand hat dem Komitee jemals das Recht aberkannt, für sich den Ruf wissenschaftlicher Vortrefflichkeit in Anspruch zu nehmen. „Ich habe mich mit den Ägyptologen auf nichts eingelassen”, schrieb Dr. John A. Widtsoe. „Ich lasse mich in keinen Disput über die Bedeutung ägyptischer Hieroglyphen ein, die Sie uns so gerne klarmachen wollen [3].”

Die große Frage der Echtheit des Buches Abraham muß in viele Einzelfragen zerlegt werden, und diese kleineren Fragen, die den verschiedenen Forschern einfallen werden, müssen notwendigerweise voneinander ganz verschieden sein: je nachdem, was für eine Methode angewendet wird.

Ein Ägyptologe wird Fragen stellen, die einem Laien nie einfallen würden, und der Bibelgelehrte wird Dinge zu fragen haben, die sich einer, dem die Bibel gleichgültig ist, nie träumen ließe. Der Gläubige wird Einwände erheben, die dem Ungläubigen nichts bedeuten. Im Rahmen derartiger Fragen ist es völlig unwesentlich, ob ein Schiedsgericht, das sich mit der Inspiration der Köstlichen Perle zu befassen hat, zuständig und befugt sei oder nicht. Die Zuständigkeit wird unweigerlich in der Art der Fragen zum Ausdruck kommen, die das Schiedsgericht stellt, und in den Antworten, die es liefert. Im vorliegenden Fall ist es aber so, daß das Gericht keine Fragen gestellt hat (!). Außerdem war das berufliche Prestige dieser Experten nicht nur der Hauptpfeiler, sondern überhaupt das einzige Fundament der Spaldingschen Hypothese, und daher läßt sich die Frage nach der Zuständigkeit nicht vermeiden, mag sie noch so unverschämt klingen oder Peinlichkeiten heraufbeschwören. Dies ist nämlich die Frage, die man von Anfang an hätte stellen sollen. Seltsamerweise ist sie überhaupt noch nie gestellt worden.

Wenn „sich in einer Sache dieser Art (wie Spalding es ausdrückt) die meisten von uns ihr Urteil anhand der Meinungen zuständiger Fachleute” bilden müssen, so hat vor allem die Frage Vorrang, ob die Fachleute die Kluft zwischen unserer Welt und der Welt Abrahams haben überbrücken können oder nicht. Diese Kluft ist vielleicht heute nicht so markant wie vor einem halben Jahrhundert, aber sie ist genauso unbedingt vorhanden. Das ist durchaus kein Widerspruch in sich. Wenn man im „Land der roten Felsen” reist, so kommt man bisweilen an einen jähen Abbruch, an einen Canyon mit senkrechten Wänden von hundert und mehr Meter Tiefe, und man muß entweder umkehren oder den Anfang des Canyons finden, um ihn zu umgehen. Dadurch kann eine Reise im Land der roten Felsen zu einem enttäuschenden Erlebnis werden. Es macht wenig aus, ob die Wände 30 oder 300 Meter tief abfallen, und es kommt überhaupt nicht darauf an, ob die Kluft 20 oder 2000 Meter breit ist — auf jeden Fall kann man nicht Weiterreisen.

So ist es auch mit dem Buch Abraham. Entweder besitzen wir das Wissen, das notwendig ist, um das Buch ganz zu verstehen, oder wir besitzen es nicht, und dann sind wir von dem Recht, dieses Wissen für uns in Anspruch nehmen zu dürfen, genausoweit entfernt wie die Gelehrten in Jahr 1912. Daß man eine Menge weiß, ist nicht genug: man berichtet rührende Geschichten von Arabern, die nachts verdurstet sind, nur ein paar Meter vom Wasser entfernt. Es kommt gar nicht darauf an, wie weit jemand gegangen ist oder wie nahe er sich beim Wasser befindet — trinken kann er erst dann, wenn er den ganzen Weg gegangen ist. Niemand hat sich über das ewige Problem der Ägyptologen beredter ausgelassen als diese Wissenschaftler selbst: über das Problem, das darin besteht, daß sie zwar dem Ziel viel näher sein mögen als je zuvor; aber wie der Araber, der von der Dunkelheit überrascht worden ist, sind sie nicht imstande festzustellen, um wieviel näher sie an das Ziel gekommen sind oder ob sie überhaupt in die richtige Richtung gegangen sind. Diese Unsicherheit spiegelt sich in einer Bemerkung de Rouges wider. „Champollion (der Entzifferer der Hieroglyphen) mußte sein ganzes Leben lang gegen eine heftige, sture Opposition kämpfen. Als er starb, stand die Wissenschaft fünfundzwanzig Jahre lang still”; denn die Kritiker des großen Forschers „besaßen nicht einmal den Mut, seine Entdeckungen auszunutzen[4]”. Die ganze Geschichte der Ägyptologie ist, wie Maspero von Zeit zu Zeit festgestellt hat, eine Warnung vor jenem eigentümlichen Selbstvertrauen, das sich aus einer gefahrlosen und zaghaften Gleichschaltung ergibt. Es ist sehr fraglich, ob irgendein anderer Ägyptologe jemals die schwierige Lage, in der sich der Fachwissenschaftler auf gerade diesem Gebiet befindet, so drastisch verkörpert hat wie Professor S. A. B. Mercer. Wie wir gesehen haben, war „Hochwürden Prof. Dr. phil. C. A. B. Mercer [Spalding gab den ersten Anfangsbuchstaben falsch wieder] vom Western Theological Seminary, Kustos der Hibbardschen Sammlung ägyptischer Nachbildungen,” während der gesamten Kontroverse die rechte Hand Bischof Spaldings. Der 32jährige Mercer mit seinem strahlenden Dr. phil., den er sich zwei Jahre zuvor in München erworben hatte, war eben vom Seminar in Kansas in ein anderes in Chikago übergesiedelt, wo er als „Professor für Hebräisch und Interpretation des Alten Testaments [5]” einen Lehrstuhl erhielt. Es war Mercer, der seinen Vorgesetzten zum Weitermachen ermutigte, selbst als die anderen sich schon zurückgezogen hatten: im vorliegenden Fall halte ich es für richtig, daß Sie den begonnenen Weg fortsetzen; und ich werde Ihnen, soweit es meine Zeit erlaubt, gerne dabei behilflich sein . . [6].”

Mercer war nicht nur der Anführer bei der Attacke von 1912, sondern er war interessanterweise auch der einzige, der sich in unseren Tagen wieder ins Gefecht begab: noch 1953 verteidigte er in einem Schreiben seinen Standpunkt von 1912 [7]. Nach letzten Berichten ist er noch immer gut in Form, und wir wünschen ihm alles Gute; denn er war nicht nur ein sehr höflicher und gütiger Mensch, sondern er überließ auch seine hervorragende Fachbibliothek des Ägyptischen — Ergebnis einer Lebensarbeit emsigen Sammelns — im Jahre 1956 der Brigham-Young-Universität zu einem Preis, den man äußerst großherzig nennen muß. Dadurch sind wir einerseits in den Besitz sämtlicher Veröffentlichungen Dr. Mercers gekommen, haben andererseits aber auch Zutritt zu nahezu allen ägyptischen Quellenwerken, die er verwendet hat. Seither habe ich viele hundert Stunden über Mercers Büchern mit seinen unzähligen Bleistiftnotizen verbracht; ich habe das Gefühl, ihn gut zu kennen, nachdem ich einen guten Einblick in seine Methoden und seine gründliche Gelehrtenarbeit bekommen habe. Glücklicherweise kann ich das Urteil darüber den berufenen Ägyptologen überlassen, die hernach zu Wort kommen sollen.

Von allen Mitarbeitern Bischof Spaldings war Dr. Mercer bei weitem derjenige, der es am heftigsten auf die Mormonen abgesehen hatte. Hätte er sich irgendeiner anderen Haltung befleißigt als der eines unbedingten Vertrauens auf seine eigene Befähigung und der unnachgiebigen öffentlichen Verdammung Joseph Smiths, dem er auch nicht den Schimmer von Verstand und Lauterkeit zubilligte, dann wäre Dr. Mercer nicht zu der rechtmäßigen Zielscheibe geworden, wie es heute der Fall ist. Er hätte auch die Nachprüfung seiner gerühmten Befähigung nicht herausgefordert: nie hat es jemand gegeben, der sich seines Gelehrtentums sicherer gewesen wäre als er, der sich aus vollerem Herzen dem gelehrten Establishment verschrieben hätte als er. Der junge Seminarist ist ganz berauscht von der eigenen Bedeutung als anerkannter Gelehrter; er läßt uns keinen Augenblick vergessen, daß er ein Gelehrter ist und mit der Autorität eines solchen spricht. Vor allem aber rühmt er sich seiner Fähigkeit als Sprachenkundiger. „Ich spreche als Linguist”, schrieb er 1912, „wenn ich folgendes sage: Wenn Joseph Smith Ägyptisch können und die mir vorliegenden Faksimiles richtig gedeutet hat, dann kann ich sebst kein Wort Ägyptisch.”


Fußnoten

[1] Selbst das erstaunliche Mißverhältnis zwischen dem Umfang des Buches Abraham und der Kürze des Textes, von dem Joseph Smith es übersetzt zu haben scheint, war schon 1915 von dem letzten der offiziellen Parteigänger Spaldings, E. G. Banks, im Literary Digest vom 10. Juli 1915, S. 66 erwähnt worden: „Die hieroglyphische Inschrift ist sehr kurz, aber Smiths Übersetzung umfaßt 30 Druckseiten.”
[2] Improvement Era, 16. Jg., S. 691
[3] Improvement Era, 16. Jg., S. 617
[4] M. de Rouge in Bibliotheque Egyptologienne, 26. Jg., S. 228
[5] Biographische Daten aus Utah Survey, 1. Jg. (1913), Nr. 1, S. 3 und
Who’s Who, London 1967
[6] Improvement Era, 16. Jg., S. 611
[7] Dieser Brief mit dem Datum vom 19. Februar 1953 wurde von LaMar Petersen zusammen mit seinem eigenen Brief an Dr. Mercer (vom 16. Dezember 1952) herumgereicht. (Siehe Bibliothek der BYU, Katalog-Nr. M 1268.)



Teil 2: Können wir vielleicht Ihren Ausweis sehen?

Wenn einer meiner Schüler eine so völlige Unwissenheit in Ägyptisch bewiese wie Joseph Smith, dann würde ich ihm bei der Prüfung die absolut schlechteste Note geben [8].” Verstünde er [Dr. Widtsoe] etwas von der linguistischen Arbeit auf dem Gebiete der Hieroglyphen, so würde er so eine Frage nicht stellen. Jeder Altphilologe weiß, daß das einstimmige Zeugnis von acht Gelehrten so gut ist wie das von achtundachtzig [9].” Jeder Altphilologe weiß gar nichts dergleichen, aber was für ein Theater macht doch Dr. Mercer daraus!

Im Jahre 1953 bat ein eifriger Sammler von antimormonischen Leckerbissen Professor Mercer um Auskunft, ob er noch immer dieselbe Haltung einnähme wie in den Jahren 1912 und 1913. Der Gelehrte antwortete ihm brieflich: „Ich bin ganz sicher, daß sich meine Meinung über diesen Gegenstand nicht geändert hat; denn die Übersetzung war so klar und deutlich [10].” Noch immer reitet er auf der Übersetzung herum, auf der „klaren und deutlichen” Übersetzung — und dabei hat niemand auch nur ein Wort übersetzt! Bei der Auseinandersetzung mit den Mormonen hält sich Mercer an die linguistische Streitfrage; denn nur auf diesem Gebiet sind die Mormonen durchaus im Nachteil, wie er meint. „Dies ist ein rein literarischer und wissenschaftlicher Test.” „Wenn sich eine feindselige Stimmung zeigt, dann nur aus sprachlichen, nicht aber aus religiösen Gründen . . . Die Gelehrten hatten das Gefühl, der Gegenstand sei es in linguistischer Sicht nicht wert, daß sie ihre kostbare Zeit daran verwendeten . . . Sie verurteilten [Joseph Smiths Werk] aus rein sprachlichen Gründen”, und die Mormonen verdienen nichts anderes als „Verachtung, weil der Prophet im sprachlichen Bereich so plump vorgegangen ist”, usw.[11]. „Die Übersetzung ist in jeder Einzelheit völlig falsch”, hatte Mercer verkündet, und er mußte es ja wissen, denn alle ägyptischen Dokumente „lassen sich verhältnismäßig leicht lesen [12]”.

Die Mormonen, die Mercer als bloße „Laien auf dem Gebiet des Ägyptischen” abtut, brauchen aber die Geißel seiner Verachtung nicht allzu schmerzhaft zu empfinden, denn auch Mercers Kollegen, darunter die bedeutendsten Ägyptologen aller Zeiten, bekamen seine beißenden Widerlegungen zu spüren; sogar seine Mitbrüder im Spaldingschen Komitee entgehen nicht seinem zweischneidigen Schwert der Wissenschaft und des Gelehrtentums. Als der große Breasted, Mercers Lehrer, sein Dawn of Conscience (Dämmerung des Gewissens) veröffentlichte — eines der lebhaftesten und originellsten Bücher, die über Ägypten geschrieben worden sind —, hatte Mercer als Herausgeber und Rezensent der kurzlebigen Zeitschrift „Egyptian Religion” nichts weiter zu melden als: „In diesem Buch wird kaum etwas Neues geboten”, und er schalt den Verfasser wegen der „übertriebenen Verwendung von Superlativen . . . einigermaßen irritierend, um so mehr, als einige Superlative nicht berechtigt sind [13]”. Mercer gibt freilich nie bekannt, warum die Superlative unberechtigt sind, es sei denn aus dem Grund, daß die echten, wirklichen, vorsichtigen Gelehrten sich niemals des Gebrauchs von Superlativen schuldig machen. Er erhebt seine Stimme gegen Breasted, weil dieser für ein Dokument ein bestimmtes Datum festgesetzt habe, und dies sei „ein Beispiel von allzuviel Vermutung auf Seiten des Verfassers”; er stützt aber seine Kritik nicht etwa durch Gegenbeweise, sondern benutzt nur die kluge und gelehrte Redensart: „Herkunft und Echtheit lassen sich nur sehr schwer bestimmen und festlegen.” Daran hätte Mercer denken sollen, als er die Faksimiles so leichthin vom Tisch fegte. Er gibt uns ja folgende Warnung, wenn wir die Arbeit Breasteds lesen: „Der Leser muß sich vor den Folgen einer Begeisterung hüten, die zwar an sich gerechtfertigt, aber nicht immer zweckdienlich ist, wenn man zu einem verläßlichen Ergebnis gelangen möchte.” All das wird sehr besorgt, wenn auch ein wenig gönnerhaft vorgebracht, wie es sich für einen umsichtigen Wissenschaftler und Gelehrten geziemt. Er sagt uns, daß Breasteds „Messianismus” sich in ägyptischen Texten nicht finden (läßt), mit wieviel diesbezüglicher Sehnsucht man sie auch studieren und interpretieren mag. Breasted hat sein möglichstes getan, um ihn aufzufinden, aber es muß dem Leser überlassen bleiben, sich darüber ein Urteil zu bilden [14].”

Wieder dasselbe: Anstatt zu zeigen, worin Breasted irrt, überläßt Mercer die Entscheidung dem Leser — eine eigentümliche Art und Weise, wenn man bedenkt, daß gerade er die fachliche Autorität anbetet und den Laien nur eben so am Rande duldet. Genauso, wie in seinem Verhalten gegenüber den Mormonen ein Jahrzehnt zuvor, gibt Mercer als Rezensent der Egyptian Religion dem Leser selten irgendeine andere Stütze als nur seine Meinung — Wenn aber seine Meinung im Gegensatz zu der eines Giganten wie Breasted steht, was sollen wir dann davon halten?

In einer weiteren Besprechung kritisiert Mercer den Forscher S. H. Hooke, weil dieser zur Verteidigung seines „Patternismus” genau dieselbe Methode angewendet hatte wie Dr. Mercer selbst, als er seinen Angriff gegen die Köstliche Perle richtete: „Nachdem er seine Theorie formuliert hatte, nimmt er sechs Gelehrte — Fachleute auf dem Gebiet der Orientalistik — und versucht mit ihrer Hilfe seine Theorie zu veranschaulichen oder zu beweisen.” Eine solche Methode hält er aber für allzu „erfinderisch” und unzuverlässig [15]. Aber war es nicht gerade Mercer, der kurze Zeit zuvor darauf bestanden hatte, daß die „einstimmige Meinung der Gelehrten unangreifbar” sei? Hatte er nicht behauptet, „die faktische Übereinstimmung von elf zugegebenermaßen fachkundigen Orientalisten” sei der letzte Beweis und „das einstimmige Zeugnis von acht Gelehrten [ist] so gut . . . wie das von achtundachzig”? Mit genau denselben Worten wie beim Angriff auf die Mormonen bemerkt Mercer, daß Professor Blackmann mit seinen Hilfestellungen in Wirklichkeit „einen tödlichen Schlag gegen die , Pattern ‘-Theorie des Verfassers” führt, indem er die Meinung äußert, „das ursprüngliche .Pattern’ [sei] nicht in Ägypten entstanden . . . , sondern dorthin importiert worden [16]”. Dabei ist die ägyptische Herkunft bei der „Pattern”-Theorie gar nicht der wesentliche Punkt! Mercer ist am Wesentlichen vorbeigegangen, aber wie vertraut klingen doch seine tadelnden Worte! Kurz zuvor hatte derselbe Mercer das wahrhaft großartige Werk A. Jeremias’, Der Kosmos von Sumer, in zwei Sätzen mit vernichtender Endgültigkeit abgetan: „Natürlich hat Dr. Jeremias seine eigene, sehr sonderbare Weise, die kosmischen Vorstellungen der Alten zu deuten . . . [17]”. „Natürlich” — ja, das stimmt; denn auf diese Weise ist Jeremias zu einem großen Gelehrten geworden; aber für Mercer ist dies die unverzeihliche Sünde des Abweichens von den ehrwürdigen Traditionen des Establishments. Erläuterungen sind daher gar nicht notwendig: Mercer schickt Jeremias mit einer professoralen Handbewegung weg.

Noch herablassender verfährt er mit Arthur Weigall, seit 1905 Generalbevollmächtigter der ägyptischen Regierung für Altertümer und Verfasser einer eindrucksvollen Liste von archäologischen Arbeiten. „Weigalls akademische Vergangenheit hat ihn dennoch nicht befähigt, sehr tief in die komplizierten Probleme der Herausgabe und Übersetzungen von Texten und deren Kommentierung einzudringen . . . seine mangelnde Ausbildung in der Philologie hat ihn in ernstliche Schwierigkeiten gebracht [18].” Immer wieder die Sache mit der Sprache! Schwerwiegender ist allerdings seine leichtfertige Verurteilung der Arbeit eines der bedeutendsten Ägyptologen überhaupt, Hermann Junker: „Seltsamerweise”, sagt Mercer und spricht von Junkers grundlegender Hypothese, „seltsamerweise meint er, Beweise” für einen ursprünglichen Glauben an einen einzigen großen Weltgott gefunden zu haben. Für mich ist das ein Anzeichen dafür, daß er das Wesen des primitiven Denkens und der primitiven Erkenntnis völlig mißverstanden hat [19].” Und worin hat der große Junker versagt? „Seine Vorstellung von einem primitiven Universalgott im alten Ägypten [ist] auf keinerlei tatsächlichen Fakten gegründet [20].”

Dies ist eine wirklich schwere Anschuldigung; aber Dr. Mercer nimmt sich nicht die Mühe zu zeigen, worin die tatsächlichen Fakten bestehen sollten: er gibt sich damit zufrieden, der soliden Erstarbeit Junkers die Ansichten der zeitgenössischen Anthropologie entgegenzustellen [21]. Wir können es entschuldigen, wenn er E. W. Osterleys und T. H. Robinsons berühmte Einführung in die Bücher des Alten Testaments als praktisch wertlos zur Seite schiebt [22], aber wenn er den unsterblichen A. Erman der Nachlässigkeit auf seinem Spezialgebiet zeiht, fragt man sich, ob Mercer nicht doch zu weit geht: „Wie viele andere Ägyptologen, die über dasselbe Thema geschrieben haben, verwendet Erman den Ausdruck .Monotheismus’ in einem sehr vagen Sinn und ohne zu definieren, was er unter .Monotheismus’ versteht” — obwohl Erman über dieses Thema ein ganzes Buch geschrieben hat. Mercer ist aber so freundlich und gibt bekannt, daß er selbst an „modernen, wissenschaftlichen Monotheismus” glaubt, was immer dies bedeuten mag [23].

Zu den letzten Hilfstruppen, die Dr. Spalding zu Hilfe kamen, als dieser sich in den widersprüchlichen Aussagen der übrigen Fachleute gefangen sah, gehörte Professor George A. Barton. Und wie verfährt Dr. Mercer mit Professor Barton? über dessen Semitic and Hamitic Origins schreibt Hochwürden Mercer: „Alle derartigen Sammlungen von Schlußfolgerungen, Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten müssen früher oder später der Verwerfung anheimfallen”, und gerade das vorliegende Buch „enthält allzu viele unrealistische und kühne Schlußfolgerungen, als daß es diesem Schicksal entgehen könnte [24]”. Besonders im Umgang mit Ägyptologie, so meint Mercer, habe Dr. Barton sich „einige besonders krasse Schnitzer zuschulden kommen lassen”. „Durch das ganze Buch hindurch finden sich allzuoft Hypothesen ohne ausreichende Grundlage . . . der Leser muß jede Aussage sorgfältig nachprüfen, besonders die Wörter und Sätze in Ägyptisch, Koptisch usw. . . . Was das Französische, Deutsche und Englische betrifft, so ist die Zahl der Druckfehler und Irrtümer Legion [25].” Er macht den Vorschlag, eine zukünftige Neuauflage des Buches „rigoros [zu] überarbeiten”; „wenn auch das Buch für Studenten im altsemitischen Fach beträchtlichen Wert haben dürfte, sofern man es mit der nötigen Vorsicht benutzt, so kann man aber dasselbe für die Studenten am altägyptischen Fach durchaus nicht behaupten [26].” Wie immer bauscht Mercer seine Rolle als Oberlinguist und Ägyptologe besonders auf. Bartons schwerstes Vergehen liegt aber darin, daß er bei der Behandlung der sumerischen Sintfluterzählung das von Mercer verfaßte Buch über dieses Thema überhaupt nicht nennt; und obgleich er Mercers Arbeit über die babylonische Religion erwähnt, „kann er das Buch, daß er so achtlos zur Seite schiebt, gar nicht gelesen haben [26]”.


Fußnoten

[8] Improvement Era, 16. Jg., S. 615
[9] Improvement Era, a. a. O. und S. 455, 456, 617; Utah Survey, 1. Jg., S. 30
[10] Siehe oben, Fußnote 7
[11] Sämtliche Stellen aus Utah Survey, 1. Jg., S. 7-11
[12] Improvement Era, 16. Jg., S. 612
[13] S. A. B. Mercer, Egyptian Religion, 2. Band (1934), S. 70
[14] A. a. O., S. 71
[15] A. a. O., 1. Band (1933), S. 84
[16] A. a. O., S. 85
[17] A. a. O., 1. Band, S. 38
[18] A. a. O., 2. Band, S. 75
[19] A. a. O., 3. Band (1935), S. 64
[20] A. a. O., S. 65
[21] Dr. Mercer besitzt ein großes Vertrauen auf seine eigene Fähigkeit, die Gedankengänge der Primitiven zu erfassen: „ . . . und so, wie die Phantasie der Kinder weniger Hemmungen kennt als die der Erwachsenen, so ist auch die Vorstellungskraft der Primitiven ungemein kräftiger gewesen als unsere eigene. So betrachteten die Menschen in Ägypten den Himmel als eine ungeheure, freundliche Kuh, die über ihnen stand. ..”
(S. A. B. Mercer, The Religion of Ancient Egypt, London 1949). In eines der Bücher von J. Cerny über die Religion des Alten und Mittleren Reiches hat Dr. Mercer nur ein Wort als Randbemerkung hingeschrieben: „Absurd!” In seiner eigenen Arbeit akzeptiert Mercer ohne eine Frage die vormals elegante, heute aber aus der Mode gekommene Theorie, der Animismus (Glaube an die Beseeltheit der Natur und der Naturkräfte) sei der Schlüssel zum Verständnis der frühägyptischen Religion: a. a. O., S. 299.
[22] Egyptian Religion, 3. Band, S. 115
[23] A. a. O., 3. Band, S. 160
[24] A. a. O., S. 160 ff.
[25] A. a. O., 3. Band, S. 161
[26] A. a. O., S. 162

 

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Last Updated November 07, 2009
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