Behauptet die Bibel, fehlerlos zu sein?

von Barry Bickmore


Einer der Hauptpunkte, indem wir Heiligen der letzten Tage mit unseren evangelikalen Nachbarn unterschiedlicher Meinung sind, ist unsere Einstellung in Bezug auf die Autorität der Bibel. Für die Evangelikalen ist die Bibel die endgültige religiöse Autorität, wogegen wir HLT fortgesetzte Offenbarung durch unsere Propheten erwarten. Dies ist ein wesentliches Thema, denn ihr Glaube an die Autorität der Bibel erlaubt es den Protestanten zu behaupten, sie hätten das Wissen zur Erlösung und die Vollmacht, das Evangelium zu predigen, ohne eine Priestertumslinie bis Christus zurückführen zu können oder irgendwelcher prophetischer Einsichten zu bedürfen.

Der evangelikale Vollmachtsanspruch basiert auf zwei Annahmen über die Bibel. Erstens muss angenommen werden, dass die Bibel alle Informationen enthält, die ein Leser braucht um erlöst zu werden, und zwar in einer Form, die eine richtige Interpretation allein durch Lesen ermöglicht. Zweitens muss angenommen werden, dass die Bibel „fehlerlos” ist, und zwar in dem Sinne, dass sie keine faktischen Fehler enthält, als sie geschrieben wurde und dass sie seither auf übernatürliche Weise vor Text-Fehlern bewahrt wurde, die (entweder absichtlich oder unabsichtlich) von Schreibern oder Übersetzern hätten eingebracht werden können. Viele behaupten tatsächlich, dass die Worte, die die biblischen Autoren verwendeten, direkt von Gott vorgegeben wurden, und dass die Bibel in diesem Sinne Wort für Wort „das Wort Gottes” ist. Wenn eine dieser beiden Voraussetzungen falsch ist, so stürzt der gesamte evangelikale Vollmachtsanspruch zusammen.

Die HLT stimmen beiden Annahmen nicht zu, aber in diesem Artikel soll nur das Thema „Fehlerlosigkeit” behandelt werden. Kurz gesagt, wir glauben nicht, dass die Bibel bis zu uns in perfekter Form überliefert wurde. Joseph Smith sagte: „Ich glaube der Bibel, wie sie geschrieben war, als sie von der Feder der Autoren geschrieben wurde. Unwissende Übersetzer, achtlose Schreiber oder berechnende, korrupte Priester haben viele Fehler gemacht.” Dem Propheten Nephi im Buch Mormon wurde gezeigt, dass „viele Dinge, die klar und höchst kostbar sind” aus der Bibel entfernt werden würden (1. Nephi 13:28). Selbst in ihrer ursprünglichen Form glauben wir nicht, dass IRGENDEINE prophetische Schrift notwendiger Weise schon immer fehlerlos gewesen sein muss. Auf der Titelseite des Buches Mormon steht: „Und wenn Mängel darin sind, so sind es Fehler von Menschen; darum verurteilt nicht, was von Gott kommt.” Die Schriften enthalten Wissen über Gott, aber es ist Wissen, dass durch unperfekte Menschen „durchgefiltert” ist: Propheten, Schreiber, Abschreiber und Übersetzer, fortgesetzte Offenbarung Gottes, durch Propheten und durch jeden einzelnen Heiligen, ist notwendig, um die Schriften voll zum Leben zu erwecken und ihre wahre Absicht zustande zu bringen, nämlich Menschen in persönliche Gemeinschaft mit Gott zu bringen.

Unglücklicherweise interpretieren unsere evangelikalen Nachbarn diese Einstellung zur Bibel oft als Angriff auf diese heilige Sammlung von Schriften. Präsident Joseph Fielding Smith hat jedoch erklärt: „Der Grund, warum die Bibel so großen Einfluss zum Guten hat, liegt darin, dass sie inspiriert ist und das Wort des Herrn enthält, das er seinen Propheten gegeben hat, die gesprochen und geschrieben haben, wie sie vom Heiligen Geist bewegt wurden, und das seit dem Anfang der Welt.” Er führt weiter aus: „Wir sind uns alle bewusst, dass es Fehler in der Bibel gibt, durch falsche Übersetzung und Unwissenheit des Übersetzers; aber die Hand des Herrn hat trotz allem über dieser Sammlung von Schriften gewacht, und es ist bemerkenswert, dass sie in einem so ausgezeichnetem Zustand, wie wir ihn vorfinden, zu uns gekommen ist.”

Die Botschaft ist klar: Fehler haben sich in die Bibel eingeschlichen, aber sie ist noch allemal gut genug, dass Gott machtvoll einsetzt, um Menschen näher zu ihm zu bringen. Wenn sie richtig übersetzt und interpretiert wird, ist die Bibel erstaunlich genau und nützlich.

Tatsächlich ist die Ansicht der HLT über die Bibel ausgesprochen realistisch. William H. Barnes, Associate Professor of Biblical Studies am Southeastern College of the Assemblies of God, stellt fest, dass „Die Beziehung zwischen dem göttlichen und den menschlichen „Autoren” der Schrift nie klar getrennt war.” Er führt aus: „Heutzutage erkennen alle außer den radikalsten Juden und Christen die komplizieten heterogenen Ursprünge der Bibel an und dass sie Aussagen enthält, die in anderen literarischen Werken als fehlerhaft angesehen würden.”

Die frühen Christen, die in Zeit und Raum den ursprünglichen Autoren der Bibel wesentlich näher waren, haben generell erkannt, dass im Text der Bibel einiges weggenommen oder verändert worden war. Der heilige Justin, der Märtyrer (ca. 150 n.Chr.) beschuldigt zum Beispiel die Juden, einige Passagen aus dem Alten Testament entfernt zu haben, die die christliche Botschaft betreffen:

„Hier sagte Trypho [der Jude Jew] , ‚Wir ersuchen dich zuerst, uns einige der Schriftstellen zu zeigen, die angeblich vollständig entfernt worden sind.’ [Justin zitiert, einige Passagen, die die Juden offensichtlich aus Esra und Jeremia entfernt haben.] ‚Und auch von den Worten des selben Jeremias wurde dieses herausgenommen: „Der Herr Gott erinnert sich der Toten von Israel, die in den Gräbern liegen; und er steigt hinab, um ihnen seine eigene Errettung zu predigen.”

Der Historiker Henri Daniel-Rops zitiert Origenes (frühes 3. Jahrhundert n.chr.), der sagte, dass selbst der Text des neuen Testamentes seiner Zeit intensiv verändert worden war: „Heute ist klar, dass es viele Unterschiede in den Manuskripten gibt, entweder durch die Missachtung einiger Schreiber, oder durch die perverse Verwegenheit von einigen, den Text zu korrigieren.”

Manche Evangelikale ignorieren diese klaren Fakten indem sie sich auf das berufen, „was die Bibel selbst über sich sagt.” Sie beziehen sich dabei auf einige Schriftstellen, in denen von der Vertrauenswürdigkeit des „Wortes Gottes” gesprochen wird, und sie beziehen diese auf den Text der Bibel. Aber, wie Professor Barnes aufzeigt, es ist nicht immer klar, wo man die Grenze ziehen muss, zwischen dem „Wort Gottes” und dem menschlichen Filter im Text der Schrift. Auf der anderen Seite gibt es einen Vers, der von Evangelikalen oft verwendet wird, der von „Schrift” spricht: „Alle Schrift ist von Gott eingegeben und nützlich zur Lehre, zur Überführung, zur Zurechtweisung, zur Unterweisung in der Gerechtigkeit” 2. Tim 3:16. Aber diese Stelle sagt nur aus, dass die Schrift inspiriert ist und daher „nützlich” ist. Sie behauptet nicht, dass sie absolut fehlerlos ist.

Tatsächlich sagt die Bibel genau das Gegenteil über sich selbst und behauptet ausdrücklich, dass sie Veränderungen erlitten hat. Denken wir einmal über die folgenden Worte des Propheten Jeremia nach: „Wie könnt ihr sagen: Wir sind weise, und das Gesetz des HERRN ist bei uns? In der Tat! Siehe, zur Lüge hat es der Lügengriffel der Schriftgelehrten gemacht.” (Elberfelder Übersetzung) „Wie könnt ihr sagen: «Wir sind weise und haben das Gesetz des HERRN bei uns»? Ist’s doch lauter Lüge, was die Schreiber daraus machen.” (Luther Übersetzung)

 

Es scheint klar zu sein, dass die Schreiber die Schriften mit ihren „Lügengriffeln” absichtlich falsch abgeschrieben haben, und dass die Israeliten daher Jeremias prophetischen Rat nicht ignorieren sollten, weil sie „das Gesetz des Herrn” hätten. Die Editoren der NIV Study Bible verbergen aber diese klare Aussage der Verse in einer Fußnote, in dem sie sagen, es wäre hier „Missinterpretation und Manipulation” des Gesetzes gemeint. George Wesley Buchanan, Professor für Neues Testament Wesley Theological Seminary, zeigt aber auf, dass vor dem Exil (also in Jerremias Zeit) Schreiber in erster Linie professionelle Abschreiber oder „Beamte, die Vollmacht hatten gesetzliche Dokumente zu schreiben.” „Während der Diaspora … in Babylon wurden die Schriftgelehrten verantwortlich, die Schrift zu erhalten und zu interpretieren.” Harpers „Encyclopedia of Bible Life” beschreibt auch den Beruf des Schriftgelehrten vor dem Exil: „Schrieftgelehrte hatten generell eine Anzahl von Pflichten, die alle in irgendeiner Weise mit Schreiben zu tun hatten. Ein Schreiber war einer der Ratgeber des Königs (Jer. 32:10-14), und schrieb auf Diktat (Jer. 36:4).”

Weiter heißt es: „Der Beruf des Schreibers hat sich im Exil gewandelt. Zur Zeit des Zweiten Tempels war der Schriftgelehrte ein Aufzeichner und Interpret des Gesetzes (Esra 7:6, 10).” Während vor dem Exil weder das Sammeln noch das Abschreiben von Heiliger Schrift die Hauptaufgabe war, musste doch jeder, der eine Abschrift der heiligen Texte wollte, einen Schreiber in Vertrag nehmen, wogegen die „Interpretation” normalerweise von jemand anderem gemacht wurde. Daher ist es sinnvoller anzunehmen, daß in Jeremias Zeit die „Lügengriffel” eher die Schrift „verfälscht” haben, als dass sie sie falsch interpretiert haben.

Es ist klar, dass die Bibel selbst keinen Anspruch auf Fehlerlosigkeit macht und tatsächlich sogar dieser Auffassung widerspricht (ebenso, wie auch das Buch Mormon und Lehre und Bündnisse). Mit Jeremia ermahnen wir alle Menschen, dem Rat der lebenden Propheten Gottes zu folgen, um die Schrift zu verstehen, anstatt allein an toten Interpretationen der Worte alter Propheten zu kleben. Das Wort Gottes wird auch heute noch gesprochen.

 

FAIR ist weder im Besitz der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage, noch von ihr kontrolliert oder an sie angeschlossen. Alle Untersuchungsergebnisse und Meinungen, die auf dieser Site angeboten werden, sind alleinige Vetwortung von FAIR und sollten nicht als offizielle Aussagen über die Lehre, den Glauben oder die Glaubenspraxis der Heiligen der Letzten Tage interpretiert werden.

If you like what FAIR does and you agree with our mission, we invite you to support FAIR in any way you are able. You can make a donation, or visit our Membership page for additional support ideas. FAIR only succeeds through the efforts of our gracious volunteers.

 

Welcome | Topical Guide | FAIR Publications | Join & Support FAIR | Message Boards
FAIR LDS Bookstore | News | FAIR Links | Contact FAIR | Home

Last Updated November 07, 2009
Copyright © 2024 by The Foundation for Apologetic Information and Research. All Rights Reserved.
No portion of this site may be reproduced in anyway without the express written consent of FAIR.

You can send comments/suggestions using our contact page.