Die Köstliche Perle in neuem Blickwinkel

Dr. Hugh Nibley
Der Stern Februar 1970

Teil 1: Herausforderung und Widerlegung

Die dritte falsche Behauptung ist Bischof Spaldings Aussage: „Der Originaltext mit der Übersetzung des Propheten stehen (sie!) für unsere Untersuchung zur Verfügung [141].” Diese Aussage ist, wie Professor Pack bemerkte, „äußerst irreführend”. Erstens haben wir nicht den Originaltext, sondern höchstens drei kleine Fragmente davon . . . Zweitens kann man diese drei Fragmente nicht als einen Teil des Textes des Buches Abraham ansehen [142].” Aber auch Dr. Pack hat das Wichtigste übersehen, nämlich daß die „drei kleinen Fragmente” durchaus nicht der Originaltext sind. Dies ist aber ein Punkt von höchster Wichtigkeit. Wenn die Experten beurteilen wollen, ob Joseph Smith ein Dokument verstanden hat oder nicht, so müssen sie doch wenigstens das vor Augen haben, was er interpretiert oder übersetzt. Wie wir noch sehen werden, haben die Experten die Anschuldigung erhoben, Joseph Smith und die Mormonen hätten wesentliche Änderungen an den von ihnen reproduzierten Faksimiles vorgenommen, ja, sie hätten einige Figuren gänzlich aus der Luft gegriffen. Ohne das Original können wir aber diese schwerwiegenden Anklagen nicht behandeln. Professor E. J. Banks erklärte in einer Vorlesung an der Universität von Utah apodiktisch: „Die Mormonen haben einen .fatalen Fehler gemacht”, als sie von Papyrusblättern sprachen; denn „die Inschrift befindet sich nicht auf Papyrus, sondern auf kleinen Stücken Ton . ..” Diese Neuigkeit ging auf den Blättern des bedeutenden Literary Digest [143] in die Welt hinaus. Auch hier wieder können wir diesen wilden Beschuldigungen nur dann entgegentreten”, wenn wir das Original haben. 1842 erschien im New York Herald ein Artikel, wonach die Papyri überhaupt nicht aus Ägypten stammten, sondern, „wie wir annehmen, von Joseph Smiths Großvater entdeckt worden sind [144]”. Nur das Original kann der Welt beweisen, daß es sich um keine Fälschung handelt.

Bei der Besprechung der einzelnen Faksimiles werden wir bemerken können, was für drastische Abänderungen im Lauf der Jahre von den verschiedenen Kopisten daran vorgenommen worden sind. Wir wollen hier nur anhand eines Beispieles zeigen, was für schimpfliche Behandlung sich diese vielreproduzierten Dokumente haben gefallen lassen müssen. Das Beispie! stammt aus jüngster Zeit. Die 1965er Ausgabe von George Reynolds’ und J. M. Sjodahls wertvollem „Commentary on the Pearl of Great Price” (Kommentar zur Köstlichen Perle) ist mit einem Schutzumschlag ausgestattet, der in starker Vergrößerung das Bild einer löwenköpfigen Gottheit zeigt, die in einem Boot auf einem Thron sitzt: offenbar also Figur 3 aus dem Faksimile 2. Aber in früheren Abbildungen zeigt dieselbe Figur — ebenso wie andere, ähnliche tierköpfige — nicht ein Löwenhaupt, das ja keinen Sinn ergibt, sondern den Kopf eines Ibisses, der sehr wohl einen Sinn hat. Weiter: statt des Krokodils, das im unteren Teil des Faksimiles 1 halb versteckt zu sehen ist, war in der offiziellen englischen Ausgabe von 1842 eine Katze dargestellt! In früheren Reproduktionen wird Figur 2 in Faksimile 2 mit einem langen Stab gezeigt, woran sich die wohlbekannte symbolische Schakalfigur befindet; die späteren Ausgaben der Köstlichen Perle (auch die heutige) zeigen den langen Stab nicht mehr, und viele Heilige der Letzten Tage wollen deshalb in dem Schakal, allerdings auf den Kopf gestellt, einen Vogel erkennen. Es scheint, als hätten die Mormonen diese Zeichnungen, die sie ja sowieso nur für Symbole ansahen, ganz nach Belieben kopiert.

Wenn dann aber Bischof Spalding die weitaus schlechtesten Kopien an seine acht urteilenden Experten sandte und verkündete, nun seien sie in der Lage, „den Originaltext” zu kritisieren, so verstieß er damit gegen alle Regeln. Noch im Jahre 1963 hielt ein bedeutender Ägyptologe die Figur 7 in Faksimile 2 (das Udschat-Auge) sogar für einen Fächer — ein ungeheuerlicher Schnitzer, der sich nur aus dem schlechten Kopieren erklären läßt. Solange die Gelehrten keinen Zutritt zu den Originaldokumenten haben, kann man die auf alten Kopien beruhenden Schlußfolgerungen bestenfalls als provisorisch ansehen.

4. Eine weitere irrige Voraussetzung — durch die aber fast jedermann hereingelegt worden ist — ist die folgende (und wir geben sie in den Worten der New York Times wieder): „Der heilige Text der Mormonen stand für eine genaue und vollständige Analyse zur Verfügung”, ja, er sei einer „gründlichen Nachprüfung durch die bedeutendsten Orientalisten der Welt unterzogen worden [145]”. Wie gründlich diese bedeutendsten Orientalisten geprüft haben, wird aus der erstaunlichen Kürze ihrer Abhandlungen erhellt, worin sie aber dennoch Zeit gefunden haben, so schöne Redensarten einzuflechten wie: „Es ist schwierig, sich ernsthaft mit Joseph Smiths unverschämtem Betrug zu befassen” (Sayce); Bemerkungen zu seinen Faksimiles können von keinem Gelehrten ernst genommen werden” (Mercer); „Es bedarf kaum der Erwähnung, daß das ,Buch Abraha’ ausschließlich eine Fälschung ist. . .” (Mace); „Seine Interpretationen sind natürlich völliger Blödsinn!” (Woodward, 1903); „…die vorgeblichen Erklärungen sind zu absurd, um sich damit abzugeben . ..” (Petrie); ziemlich komisch . . . erheiternde Unwissenheit . . .” (Peters). Wenn diese Herren die Sache nicht ernst nehmen konnten, dann hätten sie den Auftrag an andere abgeben sollen, die dazu bereit waren, und sei es auch nur aus prinzipiellen Erwägungen. Als die Mormonen sich gegen die kaltschnäuzige und verächtliche Behandlung dieses höchst wichtigen Themas verwahrten, gab Dr. Mercer in einem Antwortschreiben zu, es habe sich „Verärgerung gezeigt” und „eine offensichtlich feindselige Einstellung” und „einige Gelehrte waren über den, wie sie aufrichtig annehmen mußten, Schwindel mit Abscheu erfüllt [146]”. Er gab ferner zu, daß die „Antwort der einzelnen Gelehrten sehr kurz” gewesen sei, weil „auch nur wenig Zeit auf die Prüfung des Gesamtwerkes des Propheten verwendet” worden sei. Er hatte aber gleich eine Erklärung für die überstürzte Eile und die oberflächliche Behandlung zur Hand: erstens „bedurfte es nur eines kurzen Blickes, um herauszufinden, daß die Interpretation und die Übersetzung in allen Einzelheiten absolut falsch sind”; zweitens hatten „die Gelehrten . . . das Gefühl, der Gegenstand sei es in linguistischer Sicht nicht wert, daß sie ihre kostbare Zeit daran verwendeten; deshalb also ihre kurzgefaßten Antworten [147]”. Die Mormonen könnten aber sicher sein, daß ihre Sache nicht zu kurz gekommen sei; denn das abschließende Gutachten, von Mercer selbst abgefaßt, sei „so aufrichtig und so wissenschaftlich wie möglich [148]”.

Wie seltsam ist es dann doch, daß Bischof Spalding, der in den abschließenden Segen Dr. Mercers einstimmt, sich damit verteidigt, daß er erklärt, seine „Abhandlung erhebt nicht Anspruch darauf, eine wissenschaftliche Untersuchung zu sein [149]”. Der Wissenschaftler Widtsoe war darob mit Recht erstaunt; denn dies war doch eine seltsame Wendung nach all dem Gerede von „gründlicher Nachprüfung” und „genauer und vollständiger Analyse”. „Ich bin deshalb sehr erstaunt, wenn ich in Ihrem Schreiben lesen muß, daß Sie sich heftig dagegen verwahren, als Wissenschaftler klassifiziert zu werden, und daß Sie sagen, Sie hätten gar nie die Absicht gehabt, eine solche Untersuchung wissenschaftlich zu führen.” Dies setzt nämlich das Forum der wissenschaftlichen Kritiker der Beschuldigung aus, sie seien „von einer unbekümmerten Oberflächlichkeit. Sie haben mit Ihrer Arbeit eben erst angefangen. Entweder geben Sie also zu, daß Sie geschlagen sind, oder Sie führen Ihre Sache bis zum Ende [150].” Abermals gestand der impulsive Dr. Mercer ein, es sei noch viel zu tun, aber der Herausforderung trat er nur mit einer plumpen Ausflucht entgegen: „Viele Beweise für die Richtigkeit der Schlußfolgerungen können, falls es gewünscht wird, beigebracht werden [151].” Als aber die Mormonen den Wunsch sehr laut und deutlich vorbrachten, wurde keiner der vielen Beweise geliefert.

Spalding und seine Mitarbeiter können nicht beides haben: Sie können nicht behaupten, es sei eine leidenschaftslose, gründliche wissenschaftliche Untersuchung erfolgt, und zur gleichen Zeit zugeben, es sei dabei mit Verärgerung, überstürzter Eile und Gleichgültigkeit vorgegangen worden. Uns interessiert es überhaupt nicht, aus welchen Gründen, wie stichhaltig auch immer, man sich weigert, den Faksimiles eine „genaue und vollständige Analyse” zuteil werden zu lassen; uns genügt die Tatsache, daß man sich geweigert hat. Selbst zugestanden, daß die Gelehrten die besten Gründe auf der Welt gehabt haben mögen, die Dokumente nicht einer gründlichen Nachprüfung zu unterziehen und damit angeblich ihre Zeit zu vergeuden—schon durch die Erörterung dieser Gründe hat Mercer die Behauptung Bischof Spaldings sehr wirksam widerlegt, daß nämlich eine gründliche Nachprüfung tatsächlich stattgefunden habe. Uns interessiert es auch nicht, warum die Kapazitäten die Hieroglyphen nicht haben lesen können. Die Ausreden sind zweifellos berechtigt, aber sie kommen dem Eingeständnis gleich, daß die Aufgabe über ihre Fähigkeit hinausgeht — sie sind bei der Prüfung durchgefallen. Schön, wir können sie ohne Vorurteil heimgehen lassen; man kann sie ja nicht dafür verantwortlich machen, daß man ihnen einen Text zu lesen gegeben hat, der einfach über ihre Fähigkeiten hinausgeht, aus was für einem Grund auch immer. Wir können aber nicht zulassen, daß sie beim Hinausgehen stolz ihren Triumph rühmen und sich hämisch an der, wie sie meinen, offenbar gewordenen Unfähigkeit der anderen weiden. Nach der langen Entgegnung Mercers weigerten sich die Experten, die Angelegenheit überhaupt noch weiter zu erörtern; sogar Professor Breasted, der nach den Worten Mercers „an der Sache sehr interessiert” zu sein schien, ist „der Meinung, daß hier nichts mehr hinzuzufügen ist” und daß „es so gut wie zwecklos” sei, „überhaupt zu antworten [152]”. „So gut wie” ist bei einer so schwerwiegenden Angelegenheit natürlich nicht gut genug. Dr. Widtsoe hatte Verständnis für die Gelehrten, „vielbeschäftigte Männer, die gern wieder an ihre eigentliche Arbeit gehen möchten”, nicht aber für Bischof Spalding, der die Sache ins Rollen gebracht und gesteuert hatte: „Es war Ihre Untersuchung, nicht die der Gelehrten [153].” Gerade in dem Augenblick, wo die Mormonen nach den sehr kurzen einleitenden Erörterungen eine „erschöpfende Diskussion erhoffen”, wirft Bischof Spalding die Tür zu und weicht damit geschickt allen wirklichen Fragen aus, wie Sjodahl bemerkt, während aber „zur gleichen Zeit seine Broschüre die Runde macht und der Eindruck entsteht, niemand wolle oder könne eine Antwort darauf geben . . . Dies ist, wie gesagt, der Eindruck, der mit Duldung durch den Bischof entsteht, indem er sich weigert, die andere Seite zur Kenntnis zu nehmen[154].”

5. Eine weitere grundlegende Behauptung Dr. Spaldings, und zwar eine, die für seine Sache von größter Bedeutung ist, besagt, die Experten seien sich völlig einig über die wirkliche Bedeutung der Hieroglyphen [155]. Abgesehen von der Tatsache, daß die Hieroglyphen überhaupt nicht gelesen worden waren, ist es eine nicht minder wichtige Erwägung, daß die Ansicht der Experten nur in einem einzigen Punkt Übereinstimmung zeigte, und darin waren sie sich einig, ehe sie überhaupt von Bischof Spalding gehört hatten. Sie „verurteilen Smith einstimmig, ohne daß auch nur ein Absatz davon eine Ausnahme machte [156]”. Dies läßt sich ganz leicht erklären, ohne daß man dazu die Religion bemühen müßte: Joseph Smith als krasser Außenseiter mußte ja „mannigfaltige Äußerungen der Geringschätzung für die Arbeit eines Amateurübersetzers [157]” auf sich ziehen; es ist, wie R. C. Webb treffend bemerkt, nur natürlich, daß „jemand, der auf einem bestimmten Gebiet ausgebildet worden ist, die Bemühungen eines anderen, der dies nicht ist, mit Ungeduld betrachtet [158]”. Dies trifft besonders für die Ägyptologen zu — aus den schon besprochenen Gründen; sie sind aber auch unheilbare Einzelgänger und haben für die Unkenntnis des Kollegen noch weniger Verständnis, als dies bei den meisten Fachleuten ohnehin der Fall ist —, und das einzige, was sie zur Einigkeit und Übereinstimmung bringen konnte, war das Eindringen eines Außenseiters [159]. „Sie sind sich völlig einig in der Ablehnung der Smithschen Arbeit”, schrieb Webb, „aber das ist nicht weiter verwunderlich: Smith abzulehnen ist eine Art Gewohnheit geworden — aber in allen übrigen Punkten sind sie verschiedener Meinung [160].”

Francis M. Lyman und Joseph J. Cannon, Präsidenten der Britischen Mission, hatten schon einige Jahre zuvor auf diese interessante Erscheinung hingewiesen. Damals hatten ein paar englische Ägyptologen ihre Ansicht zu der Interpretation der Faksimiles geäußert: „Was uns besonders auffiel, waren die einmütige Verwerfung der Interpretation, die vom Propheten stammte, als Quatsch und Blödsinn, und die riesigen Unterschiede zwischen ihren eigenen Deutungen [161].” Wie im Jahre 1912, so auch im Jahre 1903: vollständige Einmütigkeit in der Aburteilung Joseph Smiths und gleichzeitige Nichtübereinstimmung in allem übrigen. Hier sehen wir, wie klug es ist, kein heimliches Einverständnis zwischen den Fachleuten aufkommen zu lassen; Spalding leitet einen Chor der Kritik gegen den Propheten — einen völlig einstimmigen Chor der Verleumdung. In dem Moment aber, wo der eine oder andere ohne den Dirigenten ein eigenes Solo anstimmt, kommt es zu seltsamen Ereignissen.

Professor George Barton ließ unversehens die Katze aus dem Sack: „In Wirklichkeit ist diese Nichtübereinstimmung”, schrieb er, „nichts anderes als ein Beweis dafür, daß die Gelehrten ohne heimliches Einverständnis geschrieben haben [162].” Genauso ist es: In bestimmten Punkten, die sie ohne Einverständnis und ohne Seitenhiebe auf Joseph Smith behandeln, stimmen sie in auffälliger Weise nicht überein; wenn sie aber Joseph Smith erwähnen, so sind sie sich — zweifellos im Hinblick auf eine vorherige Absprache — schon ihr Leben lang einig gewesen.

Für die Mormonen, diese Amateure, war es freilich ein Volksfest, den widersprüchlichen Meinungen zuzuhören, die von Zeit zu Zeit ans Tageslicht kamen, wenn die Kapazitäten ihre eigenen gelehrten Ansichten darlegten — ausgenommen ihr gemeinsamer Glaubensartikel gegen Joseph Smith. In ihrer Entgegnung mußte die Spaldingsche Gruppe zu verzweifelter und armseliger Selbstherrlichkeit Zuflucht nehmen. Gewiß, so sagten sie, sind solche Unterschiede für den Laien befremdend, aber „der Fachmann sieht keine Diskrepanz” — „ein Argument”, schreibt Webb, „das seiner [Mercer] ebenso unwürdig ist wie jedes anderen, der Anspruch darauf erhebt, ein gewissenhafter Gelehrter zu sein [163].” Wir brauchen hier nicht sämtliche Punkte der Nichtübereinstimmung aufzuzählen 164 ; es genügt, ein paar Beispiele anhand der Meinungen über Faksimile 1 wiederzugeben:

Deveria (der später von Spalding als Gewährsmann anerkannt wird): „ . . . die Seele des Osiris in Gestalt eines Falken . . . Osiris erlangt auf der Totenbahre sein Leben wieder. Der Gott Anubis bringt die Auferstehung des Osiris zustande.”

Petrie: … die wohlbekannte Szene, wie Anubis den Leichnam eines Verstorbenen zurechtmacht. Figur 1 ist der Falke Horus. Figur 2 ist der Verstorbene. Figur 3 ist Anubis.”

Breasted: „Nr. 1 zeigt eine Figur, die sich auf einer Liegestatt zurücklehnt, während ein Priester amtiert . . . Die zurückgelehnte Person stellt Osiris dar, der von den Toten aufersteht, über seinem Kopf befindet sich ein Vogel, und in dieser Gestalt ist Isis dargestellt.”

Peters: „Augenscheinlich stellt die Tafel . . . einen Einbalsamierer dar, der einen Leichnam für das Begräbnis zurechtmacht, über dem Kopf fliegt die Seele (Kos) in Gestalt eines Vogels davon … In dem Gewässer unterhalb der Erde erkenne ich ein Krokodil, das darauf wartet, den Toten zu packen und zu verschlingen, falls er nicht ordnungsgemäß durch die rituelle Einbalsamierung geschützt wird.”

Meyer: „ . . . den Leichnam eines Verstorbenen auf einer Ba” (Totenbahre) … die Seele in Gestalt eines Vogels darüber fliegt und ein Priester sich nähert.”

Lythgoe: „ . . . lediglich die übliche Szene der Mumie auf ihrer Bahre. Der heidnische Priester … ist nur die bekannte Gestalt des Gottes Anubis, .Beschützers der Mumien’ . . . lehnt sich darüber, als wolle er sie vor Schaden bewahren.”

Die Professoren Sayce, Mace und Mercer hatten über Faksimile 1 überhaupt keine Aussage zu machen, und das setzte die Mormonen in Erstaunen, denn gerade diese drei hatten sich besonders hervorgetan, wenn es galt, Joseph Smith zu verteufeln. Anscheinend bestätigt sich hier wieder einmal die alte Regel: Je weniger wirkliches Wissen jemand hat, um so mehr muß er auf Großtuerei und Ausfälligkeit zurückgreifen.

Was übrig bleibt, sind sechs kurze Erklärungen (eine davon von dem Außenseiter Deveria), die nur die ins Auge springenden Charakteristika einer altvertrauten Szene hervorheben. Kein einziger Punkt, worüber sich alle Fachleute einig wären, keine zwei Experten, die sich über alle Punkte einig wären! Was für den einen nur ein Leichnam ist, das ist für den anderen der Gott Osiris selbst; worin manche einen gewöhnlichen Priester zu erkennen glauben oder einen Einbalsamierer, der sich gerade zur Leichenöffnung anschickt, darin sehen andere Anubis selbst, der sich über den Körper beugt, um ihn zu beschützen; was für einige ein Leichnam ist, der für das Grab zurechtgemacht wird, ist für andere ein Mann, der von den Toten aufersteht; was der eine für die Seele des Mannes hält, die davonfliegt, ist für den anderen der Horusfalke, der sich nähert, und für einen dritten die Göttin Isis.

Es war durchaus angebracht und statthaft, daß die Mormonen diese Diskrepanzen für sich ausgewertet haben; denn es handelt sich beileibe um keine Nebensächlichkeiten. Diese Herren Gelehrten scheuen keine Mühe, um nur ja keinen Zweifel darüber aufkommen zu lassen, daß alles, was Joseph Smith falsch gedeutet hat, für jeden Gelehrten so klar war wie der Tag. Das gelehrte Schiedsgericht durfte sich die Sache so leicht machen wie nur möglich (und hat sie damit auch uns leicht gemacht!), indem man nur die einfachste, vertrauteste und wichtigste Figur der Abbildung zu deuten versuchte. Hätte Joseph Smith, so wurde behauptet, nur die blasseste Ahnung von ägyptischen Bräuchen gehabt, so hätte er bestimmt nicht alles und jedes mißdeutet, wie er es getan habe. Auch jetzt war man wieder, wie 1845, der Meinung: „Das Ganze ist zu ungeheuerlich, um es geduldig hinzunehmen, und zu schmerzlich, um darüber zu lachen”, und zwar angesichts der „bekannten und heute auch entschleierten ägyptischen Bilderschrift”. So konnte Mercer schreiben: „Man beklagt sich, daß die Gelehrten nicht alle Figuren der Faksimiles gedeutet hätten . . . Wahrscheinlich waren sie mit mir der Meinung, ihre Zeit sei zu kostbar, um sie an so eine wissenschaftliche Arbeit zu verschwenden wie die Joseph Smiths, [die] . . . von keinem Gelehrten ernst genommen werden [kann] [165].”

Die Fachleute versichern uns, es handele sich bei den vorliegenden Faksimiles um „eine wohlbekannte Szene” (Petrie), „lediglich die übliche Szene” (Lythgoe), „einen wohlvertrauten Papyrus . . . [dessen] eigentliche Bedeutung ganz offensichtlich [ist] und . . . niemals in Frage gestanden [hat]” (Mercer), „… in ungezählten Tausenden [von Kopien] vorhanden . . .” (Breasted). Wenn nun all die Experten so ungezählte Tausende Reproduktionen dieser Szene zu Gesicht bekommen haben, so müßte man doch meinen, sie seien mittlerweile zu einem vollkommenen Einverständnis über die Bedeutung der Darstellung gelangt. Selbst ein Laie — müssen wir uns sagen lassen — hat für seine Unwissenheit keine Entschuldigung; denn in einer so einfachen Sache genügen „fünf Minuten in der ägyptischen Abteilung irgendeines Museums, um jeden gebildeten Menschen von dem plumpen Betrugsversuch Joseph Smiths zu überzeugen [166]”. Vergleicht man gar „seine Anmerkungen mit irgendeinem Elementarbuch der ägyptischen Sprache und Religion . . .”, so wird die Smithsche Unsinnigkeit „unstreitig offenbar[167]”. Die ganze Sache sei so klar und einfach, daß es gar keiner Worte bedarf. Gerade deshalb sei es uns erlaubt, die Augenbrauen hochzuziehen, wenn die Kapazitäten so unterschiedliche Meinungen äußern oder wenn sie sich überhaupt scheuen, diese zu äußern. „Was für den inspirierten Mormonen bei der Übersetzung ein Rätsel war”, schrieb die Times, „das war für Dr. Lythgoe überhaupt keine Frage [168].” Ein dreifaches Hurra für Dr. Lythgoe! Nur: warum sind seine Deutungen so grundlegend verschieden von denen, die seine gelehrten Kollegen vorgelegt haben?

Eine notwendige Erklärung

Die erste Fassung dieser Artikelserie wurde schon einige Jahre davor geschrieben, ehe die Kirche in den Besitz der jüngst aufgefundenen Papyri kam; alles war für die Veröffentlichung in der Improvement Era vorbereitet, als die große Neuigkeit hereinbrach. Diese frühere Veröffentlichung hat nie bezweckt, das neue Beweismaterial zu untersuchen, obgleich sie die Grundlage dafür liefert. Es war nicht möglich, die neuen Probleme sofort in Angriff zu nehmen; die vorbereitenden Arbeiten waren aber bereits so weit gediehen, daß man beschloß, das Material über die geschichtlichen Vorgänge zu veröffentlichen und gleichzeitig an dem neuen Material zu arbeiten.

Viele Leute haben voll Ungeduld gefragt, warum die Kirche die Papyri nicht in die Hände der Gelehrten gelegt habe. Die Antwort ist einfach: deshalb nämlich, weil die Schriften schon viele Jahre lang in den Händen anerkannter Gelehrter gewesen sind, obwohl die Heiligen der Letzten Tage nicht einmal gewußt haben, daß es die Papyri gibt —bis vor drei Jahren.

Es hat niemals eine Zeit gegeben, wo die Manuskripte den Ägyptologen nicht genauso zur Verfügung gestanden hätten wie heute den Mitgliedern der Kirche. Seit die Kirche sie in die Hand bekam, sind sie jedermann zugänglich gemacht worden. Nicht die Mormonen haben die Dokumente von den Gelehrten ferngehalten, sondern umgekehrt. Ohne Professor Aziz S. Atiya wüßten wir heute noch nichts von der Existenz der Papyri: er ist also wirklich ihr Wiederentdecker.

Mit dem plötzlichen Auftauchen der lange verloren geglaubten Papyri und dem Schwall von Interesse an der Köstlichen Perle von Seiten der Allgemeinheit war es vor allem notwendig, einige Vorkehrungen gegen grundlegende Mißverständnisse zu treffen. Zuerst einmal war eine vorläufige Bekanntmachung angebracht — gerade so viel, daß dadurch klargestellt wurde, wir seien uns dessen durchaus bewußt, daß einige Fragmente fraglos aus dem „Buch der Toten” stammen und daß sich Joseph Smith in ausgedehnte Theorien über einige Schriften eingelassen habe, die — nach dem Stand unseres heutigen Wissens — niemand als heilige Schrift anerkennen muß. Zugleich ließen wir es darauf ankommen, sowohl die Verteidiger als auch die Kritiker des Buches Abraham zu verärgern; denn es war uns vorerst darum zu tun, voreilige Spekulationen und überstürzte Schlußfolgerungen gar nicht erst entstehen zu lassen.

Die Kritiker der Köstlichen Perle haben, ebenso wie diejenigen des Buches Mormon, schon immer eine Schwäche für eine unverzügliche Lösung der Probleme gehabt. Sobald jemand beginnt, eine endlose Gleichung an die Tafel zu schreiben oder die einzelnen Schritte zur Lösung eines vorliegenden Problems aufzuzeigen, schreien diese Forscher auf: „Was soll denn dies alles, Sie wollen ja bloß Zeit gewinnen. Geben Sie uns sofort die Antwort!” Sie möchten, daß der Lehrer sagen soll: „Meine Damen und Herren, ich bin Mathematiker, und die Lösung heißt null, weil ich es sage. Der Unterricht ist beendet.” Von allem Anfang an ist dies die liebenswürdige Methode aller Kritiker der Köstlichen Perle gewesen. Es genügt uns aber nicht, die Leute unsere Antwort wissen zu lassen, sondern wir möchten sie auch dazu bringen, daß sie erkennen, warum wir unsere Antwort für richtig halten und wie wir zu unserer Lösung gelangt sind. Man hat uns vorgehalten, wir hätten in dem Disput vom Jahre 1912 den Ägyptologen die Äußerungen von Mormonen entgegengesetzt, die keine Ägyptologen waren. Wir haben diese Äußerungen angeführt, weil sie den Nagel auf den Kopf getroffen haben, und die Ägyptologen haben darauf keine Antwort gegeben. Man muß ja auch kein Meteorologe sein, um zu melden, daß der Himmel wolkenlos sei oder daß es schneie.

Als Beispiel dafür, wie kompliziert die Auseinandersetzung werden kann, zitieren wir die privat verteilte, aber weitverbreitete Zeitung „The Salt Lake City Messenger” vom März 1968, wo in der Überschrift in Balkenlettern verkündet wird: „Das Buch Abraham entlarvt.” Na endlich! Der Herausgeber des genannten Blattes war so freundlich, dem Leser eine Probe seiner angewandten Ägyptologie vorzusetzen, und zwar in Form einer Übertragung und Übersetzung, die ein Mr. Hewards von einem Teil der betreffenden Papyri angefertigt hatte. Die Abbildung einer Schwalbe auf dem Fragment ermöglicht es selbst dem krassesten Amateur, wie dieser Verfasser einer ist, sogleich die entsprechende Stelle in dem Kapitel 86 des „Buches der Toten”, übersetzt von Budge, wiederzuerkennen. Wer sich aber die Mühe nimmt, Budges Übersetzung von „Ani” und Mr. Hewards vorgebliche Übersetzung des HLT-Fragments sowie das HLT-Fragment selbst zu vergleichen, wird bald entdecken, daß Mr. Heward das Fragment gar nicht übersetzt hat, sondern einfach die Budgeübersetzung paraphrasiert. Der Papyrus von Ani und das HLT-Fragment zeigen viel Ähnlichkeit, sind aber weit davon entfernt, identisch zu sein, und jedes Mal, wenn es eine Verschiedenheit gibt, übersetzte Mr. H. einfach den Text Budges in dessen Worten, nicht aber das HLT-Manuskript, das er angeblich als Ausgangstext benutzt. Aus Raumgründen ist es nicht möglich, hier die vielen Stellen anzuführen, wo dieser Umstand ganz deutlich zutage tritt. Das Ganze ist ein weiteres Beispiel für eine Tatsache, die in der Kritik an der Köstlichen Perle nur allzu klar in Erscheinung tritt, nämlich, daß es sehr einfach ist, die Öffentlichkeit in den Dingen hinters Licht zu führen, von denen sie so gut wie keine Ahnung hat. Niemand könnte eifriger bemüht sein, aus dem Sündenpfuhl der Kritik herauszukommen und endlich die wunderbaren Entdeckungen mit ihrer seltsamen und neuen Auswirkung auf das Buch Abraham zu besprechen, als der Verfasser dieses Artikels. Bevor wir dies aber tun können, müssen wir noch einige Präliminarfragen klären, die von anderen Leuten aufgeworfen worden sind.

H. N

Fußnoten

[141] F. S. Spalding, Joseph Smith as Translator, S. 18
[142] F. J. Pack in der Improvement Era, 16. Jg., S. 335
[143] J. Banks in The Literary Digest vom 10. Juli 1915, S. 66
[144] R. G. Bennett in The New York Herald vom 3. April 1842, S. 2
[145] New York Times vom 29. Dezember 1912, S. 12
[146] S. A. B. Mercer in Utah Survey, Band I, S. 9 und 12
[147] A. a. O., S. 8
[148] A. a. O., S. 4
[149] F. S. Spalding in der Improvement Era, 16. Jg., S. 611
[150] John A. Widtsoe in der Improvement Era, 16. Jg., S. 616
[151] S. A. B. Mercer in Utah Survey, Band I, S. 11
[152] S. A. B. Mercer in der Improvement Era, 16. Jg., S. 611
[153] John A. Widtsoe in der Improvement Era, 16. Jg., S. 458
[154] J. M. Sjodahl in der Improvement Era, 16. Jg., S. 1100, 1101
[155] Bischof Spalding behauptet das in der Improvement Era, 16. Jg., S. 615, 616. „Die Kommentare der Gelehrten weichen in keinem wesentlichen Punkt voneinander ab” (New York Times, 29. 12. 1912, S. 5)
[156] A. a. O., S. 4
[157] R. C. Webb in der Improvement Era, 16. Jg., S. 453. Als Außenseiter konnte Joseph Smith gar nicht anders als die Fachleute verärgern, weil er nicht ihre Fachausdrücke benutzte, selbst wenn er dieselbe Deutung vorlegte wie sie (A. a. O., S. 1079).
[158] A. a. O., S. 1077
[159] 1947 unternahm man den Versuch, eine internationale Vereinigung der Ägyptologen zu gründen, wie dies auf nahezu allen Gebieten üblich ist. Der Versuch wurde ein völliger Fehlschlag. Beispiele für die Art und Weise, wie Ägyptologen über Fachkollegen sprechen — mit den gleichen Ausdrücken wie das Spaldingsche Schiedsgericht —, findet man bei A. Wiedemann in Receuil des Travaux, Band VIII (1886), S. 143; A Piehl, a. a. O., S. 74-83 und Band VIII (1887), S. 191 ff.; auch A. Wiedemann, a. a. O., S. 196 und E. Chassinat, Band XX (1889), S. 1-31
[160] R. C. Webb in der Improvement Era, 17. Jg. (1914), S.
[161] Bericht von Junius F. Wells in der Improvement Era, 16. Jg., S. 341 ff.
[162] G. Barton in der Improvement Era, 16. Jg., S. 614
[163] R. C. Webb in der Improvement Era, 16. Jg., S. 1080
[164] Listen davon hat B. H. Roberts angefertigt; siehe Improvement Era, 16. Jg., S. 320 ff. und 17. Jg., S. 317-320
[165] S. A. B. Mercer in der Improvement Era, 16. Jg., S. 613
[166] New York Times vom 29. Dezember 1912, S. 4
[167] S. A. B. Mercer, zitiert in Spalding, Joseph Smith as Translator, S. 29
[168] New York Times, a. a.

Fortsetzung hier

 

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Last Updated November 07, 2009
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